Vita Contemplativa

Byung-Chuhl Han: Vita Contemplativa oder von der Untätigkeit (Ullstein, 2022)

Das Zeremoniell der Untätigkeit bedeutet:
Wir tun zwar, aber zu nichts.
Dieses
Zu-nichts, diese Freiheit vom Zweck und Nutzen
ist der Wesenskern der Untätigkeit.

In Kürze
Auf 127 Seiten nimmt der koreanisch-deutsche Philosoph Han den Leser mit auf eine Reise zu ausgewählten (überwiegend europäischen) Stationen der Geistesgeschichte der Untätigkeit. Dabei erschließt er dem Leser viele neue Einsichten – so z. B. die Bedeutung des Festes als überbordende Daseinsgestaltung frei von zielgerichtetem Handeln und somit als Ausdruck reinen Seins (oder eigentlich besser noch: reiner Seinsfreude). Dass Han sich nebenbei immer wieder an Hannah Arendt abarbeitet, die er als Promoterin des tätigen Lebens kritisiert, ist eine Schattenseite, des ansonsten lesenswerten Essays.

Noch kürzer
Seinswesentlichkeit

Vita Contemplativa

Wer wir waren

Roger Willemsen: Wer wir waren (S. Fischer, 2016)

Auch in der Sprache bildeten wir immer neue Empfindlichkeiten aus, verfemten Wörter wie „Neger“, „Zigeuner“, „Hasenscharte“, „Unkraut“, „mongoloid“ […] All das fand mehr in der Sprache als in der Welt der politischen Tatsachen, der Konsumentscheidungen, der Akte kollektiver Zerstörung statt, die wir schmerzloser quittierten.

Leider konnte Willemsen sein Buchprojekt „Wer wir waren“ nicht mehr vollenden. Geblieben davon ist eine Rede aus dem Jahr 2015, die als Essay in Buchform veröffentlicht wurde. Es ist eine genau beobachtete, sprachlich brilliant formulierte Gesellschaftskrtik aus der Perspektive des Futur II. Und an manchen Stellen hat man fast ein wenig den Eindruck der große Menschenfreund Willemsen verzweifle an der Frage, wer wir gewesen sein werden.

Wer wir waren

Zeit

Rüdiger Safranski: Zeit: Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen (Fischer Taschenbuch)

„Manches ließe sich noch dazu sagen,
doch es läuft alles auf die Einsicht hinaus,
dass das Sterben und der Tod wohl zu ertragen wären,
wenn man es vermöchte loszulassen.“

Vom Augenblick bis zur Ewigkeit, von der Eigenzeit bis zur Weltraumzeit und von der relativen Zeit zweier sich bewegender Objekte bis zur Absolutheit des eigenen Todeszeitpunkts – in seinem philosophischen Essay reflektiert Safranski den Zeitbegriff so umfassend, dass fast eine Reflexion des Lebens an sich dabei herausgekommen ist. Und dabei schreibt er so leichtfüßig und zugleich tiefgründig, dass eines der besten Bücher des angehenden 21. Jahrhunderts entstanden ist. Fast ist es ein wenig wie in Kindertagen: man kommt aus dem begeisterten Staunen nicht heraus, wenn man anfängt Altbekanntes mit neuen Erkenntnisse zu verknüpfen. Und so hat Nadolny wohl nicht unrecht, wenn er sich auf dem Einband mit den Worten zitieren lässt: „Dieses Buch ragt über alles hinaus, was heute über den Umgang mit der Zeit auf dem Markt ist. … Ein Sachbuch, das auch zaubern kann.“

Zeit

Vom Wandern

Henry David Thoreau: Vom Wandern (engl. Originaltitel Walking)

Vor allem eines können wir uns nicht leisten,
nämlich nicht in der Gegenwart zu leben.

Ich will meine Stimme erheben für die Natur,
für absolute Freiheit und Wildheit […]

„Vom Wandern“ gilt als eines der bedeutendsten Essays der (frühen) Naturschutz- und Umweltbewegung. Thoreau verknüpft die subjektive Erfahrung des Wanderns mit größeren Themen des Menschseins und der Menschheitsgeschichte. So sieht er z. B. seine Präferenz für Wanderungen gen Westen eng verbunden mit dem vermeintlichen Drang des Menschen aus Asien über Europa nach Amerika (also nach Westen). Dabei fällt es schwer die frei fließenden Gedanken und Assoziationen nachzuvollziehen. Seine Referenzen und Quellen wirken oft beliebig und manche damals womöglich als gültig angesehene Erkenntnis ist heute längst überholt. So bleibt dem Leser nur, das Dokument als Zeugnis eines erwachenden Naturbewusstseins zu lesen – und als solches ist es sicher historisch bedeutungsvoll.

Vom Wandern

Die Illusion der Gewissheit

Siri Hustvedt (2018): Die Illusion der Gewissheit; Rowohlt Verlag GmbH

„Ich staune heute noch darüber,
wie sicher sich Menschen einer Sache oft sind.
Ihre Gewissheit scheint sie zu einen.
Vieles andere bestimmt,
wer am lautesten schreit“

Mit diesem Essay über Geist und Körper hat sich die große amerikanische Intellektuelle Siri Hustvedt möglicherweise keinen Gefallen getan – und dem Leser auch nicht. Zweifelsohne ist Hustvedt äußerst belesen und in zahlreichen Facetten der Materie kundig; zweifelsohne stellt Hustvedt in ihrem über 300 Seiten starken Werk wichtige Fragen; und zweifelsohne lässt sie oft diejenigen zu Wort kommen, die mehr Gehör verdient hätten, als sie bisher gefunden haben. Aber zu unstrukturiert ist ihr Buch geraten, zu offensichtlich und bekannt sind die gestellten Fragen und zu selten gibt sie (neue) Antworten auf die gestellten Fragen, als dass sich die Lektüre des Buches wirklich lohnen würde.  Die Auszeichnungen für das Werk (z. B. mit dem Prix européen de l’essai Charles Veillon) mag man da fast eher als – ohne Frage angemessene – Würdigung der Person, denn als Maß für die Brillanz des Einzelwerks sehen.

Die Illusion der Gewissheit

Stille: Ein Wegweiser

Erling Kagge (2017): Stille: Ein Wegweiser

In einem Satz:

Der norwegische Verleger, Kunstsammler, Abenteurer und Vater dreier Töchter sinniert in 33 kleinen Essays mal philosophisch mal lebenspraktisch über die Stille und das in einem Büchlein, das optisch ebenso ansprechend ist wie haptisch.

In einem Wort:

Stille: Ein Wegweiser