Die Anomalie

Hervé Le Tellier: Die Anomalie (Rohwolt Buchverlag, 2021)

Ein Flugzeug auf dem Weg von Paris nach New York gerät in eine Gewitterfront und taucht aus dieser gleich zweimal wieder auf – einmal im März, wenige Stunden nach dem Abflug in Paris, und einmal im Juni, ganze drei Monate nach dem Abflug. Nur: wie kann das sein? Das gleiche Flugzeug, die gleichen Menschen, nicht gealtert…

Le Tellier hat sich hier ein spannendes Gedankenexperiment überlegt, das viel Raum böte für religiöse und philosophische Überlegungen aber auch für Geschichten über Menschen und ihre gelebten und ungelebten Biographien. Nur leider nutzt Le Tellier diese großartige Chance auf einen brillanten Roman nicht wirklich. Bei den Geschichten der Passagiere bleibt er oft an der Oberfläche und verzettelt sich ein wenig in ihrer Vielzahl; den philosophischen Reflexionen fehlt häufig die Profundität. Für einen potentiell derart mächtigen Roman reichen die 352 Seiten wohl einfach nicht aus – er hätte vermutlich mindestens das dreifache Volumen benötigt. Aber auch wenn die Auszeichnung mit dem Prix Goncourt 2020 so vielleicht nicht ganz nachvollziehbar ist, geistreich und unterhaltsam zu lesen ist der Roman in jedem Fall.

Die Anomalie

Ikigai (Buch)

Ken Mogi / Sofia Blind: Ikigai (DuMont, 2020)

Ikigai definiert Wikipedia als das, wofür es sich lohnt, morgens aufzustehen. Es ist persönlicher Lebenszweck und Projektionsfläche gesellschaftlicher Ideale gleichermaßen. Trotz im Detail individuell unterschiedlichen Begriffsverständnisses legt die Ohsaki-Longitudinalstudie nahe, dass Menschen, die „glauben, dass es das eigene Leben wert ist, gelebt zu werden“, die also ihr Ikigai gefunden haben, länger und gesünder leben.

Der japanische Neurowissenschaftler Ken Mogi führt in seinem Buch anekdotisch und inspirierend in seine Sicht auf Ikigai ein. Dabei nimmt er immer wieder Bezug auf die japanische Gesellschaft und Kultur. So entsteht ein überaus kenntnisreiches, unterhaltsames und lesenswertes Büchlein, das – wer weiß? – durchaus geeignet sein kann, das eigene Leben nachhaltig zu verändern.

Ikigai (Buch)

Zeit

Rüdiger Safranski: Zeit: Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen (Fischer Taschenbuch)

„Manches ließe sich noch dazu sagen,
doch es läuft alles auf die Einsicht hinaus,
dass das Sterben und der Tod wohl zu ertragen wären,
wenn man es vermöchte loszulassen.“

Vom Augenblick bis zur Ewigkeit, von der Eigenzeit bis zur Weltraumzeit und von der relativen Zeit zweier sich bewegender Objekte bis zur Absolutheit des eigenen Todeszeitpunkts – in seinem philosophischen Essay reflektiert Safranski den Zeitbegriff so umfassend, dass fast eine Reflexion des Lebens an sich dabei herausgekommen ist. Und dabei schreibt er so leichtfüßig und zugleich tiefgründig, dass eines der besten Bücher des angehenden 21. Jahrhunderts entstanden ist. Fast ist es ein wenig wie in Kindertagen: man kommt aus dem begeisterten Staunen nicht heraus, wenn man anfängt Altbekanntes mit neuen Erkenntnisse zu verknüpfen. Und so hat Nadolny wohl nicht unrecht, wenn er sich auf dem Einband mit den Worten zitieren lässt: „Dieses Buch ragt über alles hinaus, was heute über den Umgang mit der Zeit auf dem Markt ist. … Ein Sachbuch, das auch zaubern kann.“

Zeit

Event

Slavoj Žižek: Event: Philosophy in Transit; Penguin

„Event“ ist ein stellenweise schwer lesbares, zweifelsohne kenntnisreiches Traktat über unterschiedliche Facetten des „Ereignisses“ (so z. B. in der Psychoanalyse das Reale, das Symbolische und das Imaginäre). Von Platon über den Buddhismus bis zu Chesterton, Hegel und Lacan reicht der Parforceritt Žižeks. Wie hoch dann letztlich der Erkenntnisgewinn ist, mag jeder Leser für sich entscheiden.

Event

Das Fest der Bedeutungslosigkeit

Das Fest der Bedeutungslosigkeit von Milan Kundera

In Paris kreuzen sich immer wieder die Wege ein paar alter Freunde und jede dieser Begegnungen wird zum Sinnieren über das Leben genutzt. Durchwoben wird die Schilderung der Begegnungen von einer immer weiter ausgesponnenen Stalin-Anekdote.
Leider fehlt den Diskussionen der Freunde und ihrer Reflexion die philosophische Tiefe und dem Humor jede geistreiche Abgründigkeit. Damit scheinen wohl eher die Kritiker recht zu haben, die das Werk der Bedeutungslosigkeit zuordnen, als diejenigen, die in ihm ein grandioses Alterswerk sehen.

Das Fest der Bedeutungslosigkeit

Warum Buddhismus wirkt

Robert Wright (2018): Warum Buddhismus wirkt – Die Wissenschaft und Philosophie von Meditation und Erleuchtung; Lotos Verlag

„Wisse, dass alle Dinge so sind: […]
Ein Traum, eine Erscheinung.
Ohne Essenz, aber mit Eigenschaften,
Die gesehen werden können.

In seinem Buch zeigt Robert Wright die Parallelen zwischen säkularer buddhistischer Lehre und ausgewählten Experimenten und Theorien der Psychologie auf. Dabei schreibt er humorvoll, kenntnisreich und – anders als der Titel vielleicht vermuten lässt – bescheiden.
Im Kern seiner Thesen steht die Annahme, dass der Mensch durch die Evolution geprägt ist. Deren primäres Anliegen ist die effiziente und effektive Verbreitung von Genen. So kommt es, dass der Mensch die Wirklichkeit nicht sieht wie sie ist, sondern ein Bild von ihr gewinnt, das der Genverbreitung zuträglich ist. Um es buddhistisch auszudrücken: er ist verblendet. Und wer jetzt z.B. wissen will, welche Auswirkungen das auf die Moral hat, oder wie er ganz persönlich aus dieser Nummer wieder herauskommen kann, der sollte unbedingt dieses Buch des preisgekrönten Journalisten Robert Wright lesen.

Warum Buddhismus wirkt

Gibt es alles oder nichts?

Jim Holt (2014): Gibt es alles oder nichts? Eine philosophische Detektivgeschichte, Rowohlt Verlag

Natürlich kann auch Jim Holt die Frage „Why does the world exist?“ (so der englische Originaltitel) nicht beantworten. Aber seine Reise, die sowohl eine physische zu einigen großen Denkern seiner Zeit ist (wie Parfit, Updike, Swinburn oder Weinberg), als auch eine geistige durch die (Philosophie)Geschichte der Frage nach der Existenz der Welt und des Menschen, ist ebenso vergnüglich wie erhellend beschrieben. Und auch wenn man keine Antwort auf die wohl größte aller Fragen erhält, lernt man diverse Denkschemata kennen, mit denen man sich der Frage nähern kann – und das ist viel!

Gibt es alles oder nichts?

Selbstmodell-Theorie der Subjektivität

Der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger erklärt in einfachen Worten seine Selbstmodell-Theorie der Subjektivität – oder: „warum wir da kein Ich ist“:

Selbstmodell-Theorie der Subjektivität