Das Diamantmädchen

Ewald Arenz: Das Diamantmädchen (2022, DuMont Buchverlag – erstmals 2011, Ars Vivendi)

„Nichts“, sagte sie, „es ist nur so, dass wir alle keine Spuren hinterlassen.
Die Kirche steht so da wie vorher, und morgen beten sie wieder in ihr.“

Als Kinder waren Lilli, Wilhelm und Paul unzertrennlich, doch dann endete ihre Jugend abrupt mit dem ersten Weltkrieg. Und als in Berlin in den zwanziger Jahren fast schon wieder so etwas wie Normalität herrscht, ist für die drei nichts mehr wie zuvor: Wilhelm wurde nach dem Krieg für tot erklärt, Lilli ist Journalistin geworden und Paul lebt von Schuldgefühlen geplagt zurückgezogen im Haus seiner Eltern – hätte er doch Wilhelm das Leben retten können. Da passiert ein Mord an einer Person of colour und es entwickelt sich eine wilde Räuberpistole, bei der es um aus Afrika importierte Diamanten geht, mit denen an den Siegermächten vorbei die deutsche Staatskasse aufgebessert werden soll… und nicht nur die Polizei stellt sich die Frage: War Paul der Täter?

Das Buch wäre kein Arenz-Roman, wenn es neben der kriminalistischen Handlung nicht auch, ja vor allem, um große Themen wie Mut und Feigheit, Freundschaft und Verrat sowie Liebe und Enttäuschung ginge.

Das Diamantmädchen

Der Duft von Schokolade

Ewald Arenz: Der Duft von Schokolade (ars vivendi verlag, 5. Auflage 2022)

„Wozu ist Duft gut?“ fragte sie.
„Wozu ist es gut, dass etwas duftet, was man doch nicht essen darf?“
„Vielleicht sind manche Düfte auch nur Essen für die Seele“, sagte August und sah sie an.

Ewald Arenz ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Seine Geschichten sind geistvoll, spannend und sinnenreich. Und so verwundert es nicht, dass auch diese Geschichte von der Liebe des jungen Leutnants August, der gerade seinen Dienst in der Armee Österreich-Ungarns quittiert hat, zu der selbstbewussten und rätselhaften Elena Palffy von Beginn an fesselt. Dabei ist das besondere des Romans, dass er eine Liebesgeschichte in Düften erzählt – Jahreszeiten, Szenen, Menschen… all das evoziert in August fantastische Geruchslandschaften. Die Veränderung dieser Aromen im Laufe der Geschichte fügen dieser eine ganz eigene Dimension hinzu. Dass es dieser an die schwarze Romantik erinnernden Erzählung gelingt, aus einer schwebenden Melancholie immer wieder in heitere Momente auszubrechen und dass sie dabei auch ein versöhnliches Ende findet (ohne sich beim Leser mit einem billigen Happy-End anzubiedern), macht die Lektüre zu einem wahren Genuss.

Der Duft von Schokolade

Sieben Jahre

Peter Stamm: Sieben Jahre (Fischer Taschenbuch)

Es war mir als hätte ich mich von Kind an schuldig gefühlt,
nicht für bestimmte Taten oder Unterlassungen,
Dinge, die ich hätte ändern können. […]
Wenn ich nur das Gefühl von Schuld los werden könnte,
dann wäre ich frei.

In verschiedenen Zeitebenen erzählt Peter Stamm die Geschichte des Architekten Alexander, der seine schöne, zielstrebige Kollegin Sonja heiratet und mit ihr ein Architekturbüro gründet, sich aber zugleich zu der unscheinbaren Iwona hingezogen fühlt. Während Sonja die Liebe wie ein (Architektur-)Projekt sieht, das es zu entwickeln gilt, liebt Iwona ihn bedingungslos. Alexander wird süchtig nach dieser Liebe und nutzt Iwona gnadenlos aus. Gleichzeitig will er aber die bürgerliche Beziehung zu Sonja nicht aufgeben.
Und so entfaltet Stamm literarische und doch immer ganz lebensnahe Reflexionen über das Spannungsverhältnis im Dreieck von Liebe, Schuld und Freiheit. Dabei lässt er sich diesmal mehr Zeit mit seiner Erzählung als in seinen vorherigen Werken (sowohl was die erzählte Zeit als auch was die Erzählzeit angeht). Damit wirkt es weniger lakonisch, ist aber immer noch von beeindruckender Klarheit und Prägnanz.
Die zahlreichen religions-, architektur- und zeitgeschichtlichen Bezüge des Werkes wirken niemals aufgesetzt, sondern fügen dem Werk für denjenigen, der sie versteht und einzuordnen weiß, noch eine weitere spannende Dimension hinzu.

Sieben Jahre

Und doch fallen wir glücklich

Enrico Galliano: Und doch fallen wir glücklich (Übersetzung Christiane Landgrebe)

Die anderen, alle die, die nicht lieben,
das sind die Verrückten, das sind die, die nichts verstehen.
Diejenigen, die wirklich lieben,
sind die einzig Gesunden in einer Welt von Verrückten.“

Galliano erzählt von Gioias erster, großer Liebe. Nur liebt Gioia nicht irgendeinen anderen Jungen, sondern den rätselhaften Lo, der zu allem Unglück auch noch verschwindet. Und so gelingt Galliano eine Coming-of-Age Geschichte, die nicht nur von Gioia, ihrer imaginären Freundin Tonia und Lo erzählt, sondern auch über große Themen wie Liebe, Verlust, Loyalität, Wahn und Wirklichkeit philosophiert. Vieles in dem Buch ist großartig erzählt und reflektiert, aber manche Elemente erinnern zu sehr an die Umsetzung der Tipps aus einer VHS-Schreibwerkstatt. So sind z. B. die Passagen, in denen Gioias Philosophie-Lehrer ihr und anderen Schülern Weisheiten des Lebens vermittelt, zu stereotyp – sowohl im Hinblick auf die Erzähltechnik als auch die Ausgestaltung der literarischen Figur. Das Fazit aber lautet zweifellos: und doch macht es glücklich –  dieses Buch über Gioia und Lo.

P. S. Lesenswert ist auch der Anhang, der ein Verzeichnis unübersetzbarer Wörter unterschiedlicher Sprachen enthält, die Gioia mit Leidenschaft sammelt.

Und doch fallen wir glücklich

Der Neurochirurg, der sein Herz vergessen hatte

Doty, James R. (2017): Der Neurochirurg, der sein Herz vergessen hatte – Eine wahre Geschichte; Scorpio Verlag GmbH.

„Ich fühlte etwas,
das ich bislang nur einmal im Leben gespürt hatte –
ein Gefühl in Wärme und Liebe gehüllt zu sein…
ein Gefühl von tiefem inneren Frieden
und der absoluten Gewissheit,
dass alles gut werden würde […]“

Die Autobiographie von James R. Doty ist inspirierend, unterhaltsam und lehrreich zugleich. Sie erzählt von dem kleinen jungen Jim, den eine alte Frau in die Magie der Entspannung, der Zähmung des Geistes, der Öffnung des Herzens und der Fokussierung auf eine klare Absicht einführt. Sie erzählt von dem heranwachsenden James der die Macht und Wirkung der Gedanken kennenlernt. Und sie erzählt von dem erwachsenen Neurochirurgen Doty, der lernt, wie fatal die Macht der Gedanken sein kann, wenn sie nicht auf liebender Güte fußt. Während sich in dem Buch viele alte Weisheiten des Buddhismus (und vermutlich manch anderer Religion) wiederfinden lassen, ist es vielleicht auch deshalb so sympathisch, weil Doty ein bekennender Atheist und Naturwissenschaftler ist, der sich nur die Offenheit für Wunder und das Wundern bewahrt hat. Und so ist Doty ein großartiges Plädoyer für liebende Güte, Mitgefühl und Altruismus gelungen.

Der Neurochirurg, der sein Herz vergessen hatte

Stella

Takis Würger (2019): Stella; Carl Hanser Verlag

„Sie tat etwas,
für das andere Menschen sie hassten,
und ich stand bei ihr.
Ich verstand sie nicht,
aber ich stand.“

Als Friedrich, ein junger und ein wenig naiver Schweizer, inmitten des 2. Weltkrieges nach Berlin kommt, lernt er dort Kristin kennen und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Eines Tages klopft Kristin an seine Hotelzimmertür: „Ich habe Dir nicht Wahrheit gesagt.“ – denn Kristin ist nicht nur Kristin, sondern auch Stella, eine Greiferin. Zunächst versucht sie vor allem, das Leben ihrer Eltern zu retten – aber nach und nach entgleitet sie sich.

Anfänglich hofft man, Kehlmann hätte recht, wenn er über „Stella“ sagt: „Man beginnt dieses Buch mit Skepsis, man liest es mit Spannung und Erschrecken, man beendet es mit Bewunderung.“ Aber leider wirken die Figuten oft zu flach gezeichnet, die Dialoge steril und die eingesetzten Stilmittel oberstufenhaft. Und das ist dem Sujet einfach nicht angemessen.

Stella

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

Peter Stamm (2018): Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt; S. Fischer

„Ja, sagte ich, aber am Ende kommt doch alles, wie es kommen muss.
Und das wäre dann das glückliche Ende?, fragte sie.
Ich weiß nicht, sagte ich.
In der Wirklichkeit gibt es kein Ende außer dem Tod.“

Gewohnt lakonisch zieht Stamm den Leser in den Bann einer sanften Melancholie, wenn er die Geschichte von Christoph erzählt.  Christoph – Schrifsteller, später auch Lehrer – begegnet seinem jüngeren Alter Ego. Und er begegnet Lena, einer jungen Frau, die seiner großen Liebe Magdalena gleicht, die er viele Jahre zuvor verloren hat.  So könnte sich jetzt eigentlich alles zum Guten entwickeln, aber es zeigt sich nur: das Schicksal kennt keine zweite Chancen.

Oft deutet Stamm in seinem Roman, in dem Lebensläufe verwoben sind als seien sie Handlungsstränge eng verwandter Paralleluniversen, große Gedanken über die Liebe und das Leben nur an – aber dies ist stets ein Fingerzeig in die Tiefe, nie Oberflächlichkeit.

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

Weit über das Land

Peter Stamm (2016): Weit über das Land

Inhalt einem Satz:

An einem lauen Sommerabend nach der Rückkehr aus dem Familienurlaub steht Matthias von der Bank vor dem Haus auf, das er mit Astrid und den gemeinsamen Kindern bewohnt, und geht fort; während er zunehmend zu sich selbst findet, verliert Astrid ihn Tag für Tag mehr und entdeckt dabei zugleich eine neue Nähe zu ihm.

Kritik in einem Satz:

Gewohnt lakonisch und zugleich ungeheuer faszinierend erzählt Stamm diese einfache Geschichte des Weggehens und des Verlustes, die durch ihre Gabelung am Ende nochmal einen besonderen Reiz erfährt, nicht ohne den Leser ein wenig irritiert zurückzulassen.

In einem Wort:

Lebensliebe

Weit über das Land