Wenn es dunkel wird

Peter Stamm: Wenn es dunkel wird, Erzählungen (S. Fischer, 2020)

Da ist die Krankenschwester, die unvermittelt einem Künstler Modell steht, sich in der Gallerie und schließlich in der Wohnung des Sammlers als Statue wieder begegnet und schließlich mit ihr zu verschmelzen scheint. Da ist die Frau in den Bergen, die eine Polizistin ihren vor langer Zeit verschwundenen Bruder auf einer karstigen Hochebene suchen lässt. Oder da ist Georg, der sich in den letzten Tagen vor seiner Verrentung einfach aufzulösen scheint.

Stamms Geschichten werden oft getragen von einer melancholischen Banalität. Manchmal brechen sie dann ins Surreale und der Leser fasst sich verwundert an den Kopf… war da was? Da war doch was!
Dabei ist Stamms Sprache wieder einfach und klar, fast sachlich-nüchtern. Sie vermittelt eine trügerische Sicherheit in der fragilen Realität der Menschen in seinen Erzählungen…

Wenn es dunkel wird

Ungefähre Landschaft

Peter Stamm: Ungefähre Landschaft (Fischer Taschenbuch, 2010)

Das Fjell sah aus wie eine Zeichnung aus wenigen Strichen. Rußland, Finnland, Schweden oder Norwegen, alles sah hier oben gleich aus. Die Grenzen lagen unter dem Schnee, der Schnee verband alles, die Dunkelheit deckte alles zu. Die wirklichen Grenzen lagen zwischen Tag und Nacht, zwischen Winter und Somer, zwischen den Menschen.

Katherine lebt nördlich des Polarkreises, ist 28 und zum zweiten Mal verheiratet. Als sie entdeckt, dass ihr Mann sie in vielen kleinen – und vielleicht auch manchen großen – Dingen belogen hat, bricht sie zum ersten Mal in ihrem Leben aus. Sie lässt das Kind aus ihrer ersten Ehe bei Ihrer Mutter zurück und reist nach Frankreich, zu Christian, einem Freund.

Nach seinem Debüt Agnes ist Stamm hier sein zweiter großartiger Roman gelungen – nüchtern und berührend zugleich. Oder wie die Frankfurter Rundschau schrieb: Ein bestechend gutes Buch. Stamms Sätze können klirren wie Eis und schweben wie eine Schneeflocke.

Ungefähre Landschaft

Sieben Jahre

Peter Stamm: Sieben Jahre (Fischer Taschenbuch)

Es war mir als hätte ich mich von Kind an schuldig gefühlt,
nicht für bestimmte Taten oder Unterlassungen,
Dinge, die ich hätte ändern können. […]
Wenn ich nur das Gefühl von Schuld los werden könnte,
dann wäre ich frei.

In verschiedenen Zeitebenen erzählt Peter Stamm die Geschichte des Architekten Alexander, der seine schöne, zielstrebige Kollegin Sonja heiratet und mit ihr ein Architekturbüro gründet, sich aber zugleich zu der unscheinbaren Iwona hingezogen fühlt. Während Sonja die Liebe wie ein (Architektur-)Projekt sieht, das es zu entwickeln gilt, liebt Iwona ihn bedingungslos. Alexander wird süchtig nach dieser Liebe und nutzt Iwona gnadenlos aus. Gleichzeitig will er aber die bürgerliche Beziehung zu Sonja nicht aufgeben.
Und so entfaltet Stamm literarische und doch immer ganz lebensnahe Reflexionen über das Spannungsverhältnis im Dreieck von Liebe, Schuld und Freiheit. Dabei lässt er sich diesmal mehr Zeit mit seiner Erzählung als in seinen vorherigen Werken (sowohl was die erzählte Zeit als auch was die Erzählzeit angeht). Damit wirkt es weniger lakonisch, ist aber immer noch von beeindruckender Klarheit und Prägnanz.
Die zahlreichen religions-, architektur- und zeitgeschichtlichen Bezüge des Werkes wirken niemals aufgesetzt, sondern fügen dem Werk für denjenigen, der sie versteht und einzuordnen weiß, noch eine weitere spannende Dimension hinzu.

Sieben Jahre

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

Peter Stamm (2018): Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt; S. Fischer

„Ja, sagte ich, aber am Ende kommt doch alles, wie es kommen muss.
Und das wäre dann das glückliche Ende?, fragte sie.
Ich weiß nicht, sagte ich.
In der Wirklichkeit gibt es kein Ende außer dem Tod.“

Gewohnt lakonisch zieht Stamm den Leser in den Bann einer sanften Melancholie, wenn er die Geschichte von Christoph erzählt.  Christoph – Schrifsteller, später auch Lehrer – begegnet seinem jüngeren Alter Ego. Und er begegnet Lena, einer jungen Frau, die seiner großen Liebe Magdalena gleicht, die er viele Jahre zuvor verloren hat.  So könnte sich jetzt eigentlich alles zum Guten entwickeln, aber es zeigt sich nur: das Schicksal kennt keine zweite Chancen.

Oft deutet Stamm in seinem Roman, in dem Lebensläufe verwoben sind als seien sie Handlungsstränge eng verwandter Paralleluniversen, große Gedanken über die Liebe und das Leben nur an – aber dies ist stets ein Fingerzeig in die Tiefe, nie Oberflächlichkeit.

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

Weit über das Land

Peter Stamm (2016): Weit über das Land

Inhalt einem Satz:

An einem lauen Sommerabend nach der Rückkehr aus dem Familienurlaub steht Matthias von der Bank vor dem Haus auf, das er mit Astrid und den gemeinsamen Kindern bewohnt, und geht fort; während er zunehmend zu sich selbst findet, verliert Astrid ihn Tag für Tag mehr und entdeckt dabei zugleich eine neue Nähe zu ihm.

Kritik in einem Satz:

Gewohnt lakonisch und zugleich ungeheuer faszinierend erzählt Stamm diese einfache Geschichte des Weggehens und des Verlustes, die durch ihre Gabelung am Ende nochmal einen besonderen Reiz erfährt, nicht ohne den Leser ein wenig irritiert zurückzulassen.

In einem Wort:

Lebensliebe

Weit über das Land

Nacht ist der Tag

Über:
Peter Stamm (2013): Nacht ist der Tag

In Kürze:
Das besondere am Schweizer Ausnahmeautor Peter Stamm ist, dass er es schafft trotz einer äußerst lakonischen Erzählweise mit seinen Büchern eine unglaubliche Berührtheit zu erzeugen, die sich bis zu einem Sog steigern kann.  In „Nacht ist der Tag“ erzählt Stamm die Geschichte von Gillian, die bei einem Autounfall nicht nur ihren Mann Matthias, sondern auch ihr Gesicht verliert – und eigentlich verliert sie ihr ganzes bisheriges Leben. Ist das alles nur passiert, weil Matthias die Aktaufnahmen gefunden hat, die der Künstler Hubert einst von ihr machte? Und ist es Hubert, der sie – nach zahlreichen Gesichts-OPs – zurück ins Leben führt? Unabhängig davon wie der Leser diese Fragen für sich beantwortet, ist es faszinierend zu sehen, wie Stamm große Themen wie „Nähe & Distanz“ oder „Identität & Körperlichkeit“ reflektiert.

Noch kürzer:
Lacrima

Siehe auch:
Agnes

Nacht ist der Tag